Ein Haus, 3 Namen, 3 Schicksale aus Baumschulenweg: Die Baumschulenstraße 12

1896. Im Treptower Park begeisterte die Bürgerinnen und Bürger eine Ausstellung, wie sie noch nie zu sehen war. Die Berliner Gewerbeausstellung vom 1. Mai bis 15. Oktober im Treptower Park überbot mit einer Fläche von 900.000 m² selbst die bisherigen Weltausstellungen. Um den „Neuen See“, ein künstlich angelegtes Wasserbassin mit 10.000 m² Fläche (in etwa auf dem heutigen Gelände des Sowjetischen Ehrenmals), gruppierten sich auf dem weitläufigen Gelände entlang der Spree die Pavillons der 3.780 Aussteller, die in 23 Gruppen aufgeteilt waren. Das größte Gebäude war das in der Nähe des Haupteingangs gelegene Haupt-Industrie-Gebäude, in dem 13 Gruppen untergebracht waren, um ihre Produkte und Entwicklungen vorzustellen. Für die Stromversorgung der gesamten Anlage war ein eigenes Kraftwerk errichtet worden. 1896 war auch das Jahr, in dem das Haus Baumschulenstraße 12 erbaut wurde. Erster Eigentümer war Wilhelm Gadegast, der es ca. 5 Jahre später an den Gärtner Richard Liesegang, wohnhaft in der Baumschulenstr. 36 (später in der Baumschulenstr. 13) verkaufte.

 

Als Ausgangspunkt meiner Recherchen wählte ich das Jahr 1928:

Neben dem Eigentümer Liesegang und anderen Mietern wurden hier der Zahnarzt Dr. Lublinsky, eine Weingroßhandlung Sello und das „Kaufhaus Hermann Bry“ genannt. Fünf Jahre später, nachdem Hitler Reichskanzler geworden war, gab es einen reichsweiten Boykott jüdischer Geschäfte, der durch die Ortsgruppen der NSDAP durchgeführt wurde. So auch in Baumschulenweg. Die Aktion hatte die politische Funktion, die jüdischen Mitbürger gesellschaftlich auszugrenzen, die Macht der Nationalsozialisten zu demonstrieren und zugleich die Herrschaft des Nationalsozialismus zu stabilisieren. Es existierte eine interne Liste der NSDAP für die Bezirke Treptow und Neukölln, in der aus Baumschulenweg u. a. die Weingroßhandlung „Sello“ und das Kaufhaus „Hermann Bry“ in Vorbereitung dieses Boykotts mit genannt wurden.

 

Die Weingroßhandlung „Sello“ wurde bereits 1884 gegründet. In mehreren Stadtbezirken Berlins gab es Filialen, so auch in der Baumschulenstr. 12. Und genau diese lokale Filiale war das Ziel des Boykotts vom 01.04.1933. In den Adressbüchern der folgenden Jahre wurde dann eine Weingroßhandlung Schönitz genannt. Dr. Siegfried Lublinsky, geb. 1894, war ein anerkannter Zahnarzt in Baumschulenweg. Seine Praxis hatte er seit 1919 in der 2. Etage. Auf der Liste der NSDAP wurde er zwar nicht genannt, seine ärztliche Tätigkeit durfte er aber ab 1933 nicht weiter ausüben. Er floh 1934 über die Slowakei in die Schweiz und dann 1939 nach Palästina. 1948 verstarb er kinderlos in Israel.

 

 

Aus dem Berliner Adressbuch von 1935 geht hervor, dass in der Praxis in der Baumschulenstr. 12 dann ein Zahnarzt Dr. Fritz Lutz praktizierte. Noch heute kann man über das Internet die Broschüre/Veröffentlichung von Dr. Lublinsky mit dem Titel „Die Unterkieferbewegungen und die Herstellung naturgetreuer Artikulation in der Zahnprothetik“ antiquarisch erwerben oder es in der Staatsbibliothek Berlin einsehen.

 

Eine bewegte Geschichte hat das jetzige Geschäft „Prisma-Moden“. In den 20-iger Jahren war die im Haus wohnende Dorothea Dietrich Besitzerin dieses Ladens. Ca. 1925 übernahm Hermann Bry dieses Geschäft und ließ es mit Hilfe der bekannten Architektenfirma Wübben (Scheiblerstr. 19) umbauen und renovieren. Da auch Hermann Bry mit der Adresse Baumschulenstr. 12 auf der Liste der Nationalsozialisten stand, war auch sein Geschäft von der Boykottaktion der Nationalsozialisten betroffen. Ab 1935, nach dem Tode von Hermann Bry im Monat Juni, führte Emma Bry im Alter von 64 Jahren das Geschäft „Kaufhaus Hermann Bry“ als Inhaberin weiter. Im Gegensatz zu Dr. Lublinsky ging sie nicht ins Exil. Schließlich lag ja ihr Ehemann auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee.

 

Nach der Einführung der "Nürnberger Gesetze" im Jahre 1935 verschärften sich die gesetzlichen Bestimmungen für die jüdische Bevölkerung.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 kam es zu zahlreichen deutschlandweit angelegten Pogromen gegen jüdischen Mitbürger und Geschäfte, auch bekannt als Reichspogromnacht. Davon war auch unter anderem das Geschäft der Emmy Bry in der Baumschulenstr. 12 betroffen. Sie allein musste mit allen Folgen der Pogromnacht vom 09. November 1938 fertig werden. Die jüdischen Bürgerinnen und Bürger mussten nicht nur für die Schäden haften, die bei den Pogromen angerichtet worden waren, es wurde ihnen auch eine "Buße" in Höhe von einer Milliarde Reichsmark auferlegt.

 

Kurz darauf, am 12.11.1938, wurde ein neues Gesetz erlassen, das besagt, dass jüdische Deutsche nun keine Geschäfte und Handwerksbetriebe mehr betreiben dürfen. Bereits im „Baumschulenweger Beobachter“ vom 01.12.1938 wurde eine Anzeige zwecks Suche einer neuen Verkäuferin für das „arisierte“ Kaufhaus Bry gesucht. In der Industrie- und Handwerkskammer wurde jetzt die Frau Elisabeth Höhn als Eigentümerin des Geschäftes „Kaufhaus Höhn“ in der Baumschulenstraße 12 genannt.

 

 

Das Haus Baumschulenstr. 12 heute
Das Haus Baumschulenstr. 12 heute

Unbemerkt begann bereits im Jahre 1939 im Zusammenhang mit der Volkszählung vom Mai (unter Nutzung von Lochkartentechnik) eine nahezu lückenlose Erfassung aller als jüdisch klassifizierten Personen. Gleichfalls 1939 erfolgte die Aufhebung des Räumungsschutzes: Vermieter konnten jüdischen Mietern jederzeit kündigen. Eine weitere Verschärfung der Lebensbedingungen war im September 1941 die Einführung des „Judensterns“ in Deutschland. Damit mussten alle jüdischen Bewohner einen gelben Stern mit der Aufschrift „Jude“ tragen. Die soziale Ausgrenzung nahm eine neue Form an. Für Berlin-Treptow wurde die Ausgabe der Judensterne in der Synagoge Thielschufer (jetzt Fraenkelufer 10 – 12) zum Stückpreis von 0,10 RM festgelegt. Weiterhin durften Juden ohne polizeiliche Genehmigung ihren Wohnbezirk nicht mehr verlassen und auch keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen.

Für Emma Bry war es damit nicht mehr möglich, das Grab ihres Mannes auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee zu besuchen. Am 08.09.1942 erhielt sie von der Gestapo einen Brief mit Zustellungsurkunde, wo ihr Evakuierungstermin, der 14.09.1942, genannt wurde. Außerdem enthielt dieser Brief das 16-seitige Formular der „Vermögensaufstellung“. Damit verbunden Verbunden war die Einziehung ihres gesamten Vermögens zugunsten des Deutschen Reiches. Diese Vermögensaufstellung ist im Landesarchiv Potsdam noch vorhanden. Daraus geht hervor, dass sie weder Bargeld noch normale Haushaltsgegenstände besaß. Ihre letzte Adresse war eine Pension in der Niebuhrstraße. 76.

 

Im Gedenkbuch der Opfer des Nationalsozialismus ist als Todeszeitpunkt von Emmy Bry der April 1944 genannt. Wie viele andere, wurde ihr Leben im Ghetto von Theresienstadt beendet. Eine Todesfallanzeige fand sich nicht.

Ich laufe mehrmals in der Woche auf dem Wege zum Bahnhof an dem Haus Baumschulenstraße 12 vorbei.Für mich persönlich ist es kein Haus wie viele andere in dieser Straße.

Dieses Haus hat eine Bedeutung.

 

Andreas Freiberg